Portraitfoto von Alexander Mavroudis.
Alexander Mavroudis, Abteilungsleiter Jugendförderung beim LVR-Landesjugendamt Rheinland. Foto: LVR

Ein Essay zum aktuellen Diskurs um das Neutralitätsgebot

In aktuellen Diskursen auf kommunaler, Landes- und auch Bundesebene taucht immer mal wieder die Frage auf, was das sogenannte Neutralitätsgebot für die (politische) Bildungsarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet. Hier bedarf es einer klaren Haltung bei allen relevanten Akteur*innen: und zwar für Vielfalt, Offenheit, soziales Miteinander in einer lebendigen und „bunten“ Demokratie.

In aktuellen Diskussionen wird von bestimmten politischen Kreisen gerne auf das Neutralitätsgebot (nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetzt) verwiesen, um zum Beispiel politische Positionierungen von Akteur*innen der Kinder- und Jugendarbeit zu verhindern oder gar die öffentliche Förderung von Angeboten und Trägern infrage zu stellen. Dies verunsichert nachvollziehbar Fachkräfte und Ehrenamtler*innen gleichermaßen – und leider scheint genau dies das Ziel zu sein.

Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen


In den überwiegenden Fällen wird das Neutralitätsgebot meines Erachtens instrumentalisiert bzw. einseitig interpretiert und damit aus dem Zusammenhang verfassungsrechtlicher Gebote gerissen. Hierzu gehören vor allem die Menschenwürde, der Wesensgehalt der Grundrechte und die sogenannten Strukturprinzipien Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatprinzip einschließlich Gewaltenteilung – ganz zu schweigen von dem Recht auf freie Meinungsäußerung und freie geistige Auseinandersetzung.

Zu diesen persönlichen Rechten hinzu kommen fachliche Gründe, weshalb Akteur*innen und Träger in der Kinder- und Jugendhilfe nicht neutral sein können. Die Prinzipien des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sprechen eine deutliche Sprache. Es geht um das gelingende Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen und die Förderung der gleichberechtigten Teilhabe, orientiert an der Vielfalt der individuellen Lebenslagen. Der 17. Kinder- und Jugendbericht spricht von Jungsein in Vielfalt, bezogen auf Kultur, Geschlecht und Sexualität, Migration, Behinderung sowie regionale Unterschiede zwischen Ost und West, Stadt und Land. Junge Menschen müssen darauf vertrauen können, dass sie individuell unterstützt, geschützt und beteiligt werden – das sind ihre auch über die UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte.

Wir sind den Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe verpflichtet

Die Akteur*innen und Träger haben – hierfür steht der Begriff der Eigenständigen Jugendpolitik – das Mandat der Interessenvertreter*innen für Kinder und Jugendliche. Wir müssen für sie Partei ergreifen. Es geht darum, mit jungen Menschen gesellschaftliche Entwicklungen, zum Beispiel bezogen auf Migration, Armutslagen, Klima, Krieg oder auch ausgrenzend-populistische Parteipolitik kritisch zu diskutieren und ihnen eigene Erfahrungsräume zur Verfügung zu stellen, in denen sie Verantwortung übernehmen, ihre Interessen ausleben und Demokratie erleben können.

Wir müssen die Stimme für Kinder und Jugendliche erheben – am besten mit ihnen

Das betrifft insbesondere freie Träger, die als sogenannte Grundrechtsträger der Meinungs-, Religions- und Kunstfreiheit unterliegen. Die Vielfalt der Verbände und Träger ist gesetzlich geschützt und stellt eine herausragende Qualität des demokratischen Miteinanders von und für junge Menschen dar. Dazu gehört, kritische und kontroverse Positionen, soweit diese nicht die freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage stellen, als notwendige Beiträge für eine lebendige demokratische Gemeinschaft anzuerkennen. Für eine Verknüpfung von öffentlicher Förderung mit (partei-)politischer und/oder sozialpolitischer Neutralität bzw. Wohlverhalten – aus welcher Sicht auch immer – gibt es keine (förder-)rechtliche Grundlage.

Auch bei Veranstaltungen oder Veröffentlichungen können Träger frei entscheiden, welche Parteien sie einladen. So kann es zwar gute fachliche Gründe geben, den Diskurs mit extremen Positionen in der Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen zu suchen. Gleichzeitig ist eine klare Abgrenzung zu anerkannt bzw. offensichtlich extremistischen Akteur*innen zu wahren – zudem diese oft gar nicht an einer Diskussion interessiert sind, sondern nur eine Bühne suchen.

Ein Tipp an dieser Stelle: Statt Parteien beim Namen zu nennen, kann man fachlich argumentieren mit dem Hinweis auf Werte wie zum Beispiel Menschenwürde, Vielfalt, Toleranz, Pluralität und soziales Miteinander, die einem wichtig sind – damit wird deutlich, wer als Gesprächspartner*in erwünscht ist.

Auch als Mitarbeiter*in beim öffentlichen Jugendhilfeträger muss ich nicht neutral sein

Wir sind gleichermaßen den Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe – für die die kommunalen Jugendämter nach § 79 Abs. die Gesamtverantwortung haben! – verpflichtet und von daher gefordert, uns für diese und die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Dazu gehört, sich klar gegen extremistische, menschenverachtende und demokratiezerstörende Entwicklungen und Akteur*innen zu positionieren und zu handeln. Unsere Haltung ist gefragt – ergreifen wir Position!

Alexander Mavroudis
LVR-Landesjugendamt Rheinland
alexander.mavroudis@lvr.de

Weitere Informationen

Quellennachweis: Veröffentlicht im LVR-Jugendhilfereport 4.2025. Seite 33–34. Hrsg.: Landschaftsverband Rheinland, Dezernat Kinder, Jugend und Familie. Köln.